Fortwirkung der Erklärung auf Verzicht einer mündlichen Verhandlung – Zusammenfassung des Beschlusses vom 15. Mai 2024, IX S 16/24

Gericht: Bundesfinanzhof (BFH), IX. Senat

ECLI: DE:BFH:2024.150524.IXS16.24.0

Leitsätze

NV: Die Erklärung, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten, verbraucht sich jedenfalls dann nicht durch eine nachfolgende gerichtliche Entscheidung, wenn hierdurch lediglich der äußere Fortgang des Verfahrens betroffen und nicht die tatsächliche oder rechtliche Grundlage der Endentscheidung berührt wird.

Tenor

  • Die Anhörungsrüge der Kläger gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 20.02.2024 – IX R 27/23 (II R 27/15) wird als unbegründet zurückgewiesen.
  • Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

Die Kläger, die sich gegen die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes wandten, führten beim BFH ein Revisionsverfahren. Ihre Prozessvertreter verzichteten mit Schreiben vom 23.09.2015 auf eine mündliche Verhandlung, was auch das FA mit Schreiben vom 13.10.2015 tat. Das Verfahren wurde aufgrund eines Normenkontrollverfahrens beim BVerfG ausgesetzt. Nach der Entscheidung des BVerfG nahm der IX. Senat des BFH das Verfahren wieder auf und entschied ohne mündliche Verhandlung am 20.02.2024.

Entscheidungsgründe

Die Anhörungsrüge der Kläger wird als unbegründet zurückgewiesen, da keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt.

  1. Rechtsgrundlage der Anhörungsrüge:
    • Nach § 133a Abs. 1 FGO ist das Verfahren auf die Rüge fortzuführen, wenn der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde.
    • Die Rüge muss darlegen, dass eine solche Verletzung vorliegt (§ 133a Abs. 2 Satz 5 FGO).
  2. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung:
    • Gemäß § 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet der BFH in Revisionsverfahren aufgrund mündlicher Verhandlung. Ein Verzicht der Beteiligten ermöglicht eine Entscheidung ohne Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).
    • Die Kläger und das FA haben klar und vorbehaltlos auf eine mündliche Verhandlung verzichtet. Dieser Verzicht hat seine prozessrechtliche Wirkung nicht verloren.
    a) Verbrauch des Verzichts: – Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung wird nicht durch jede nachfolgende Entscheidung des Gerichts „verbraucht“. Nur wenn das Gericht durch eine prozessgestaltende Handlung signalisiert, dass eine mündliche Verhandlung notwendig sei, gilt der Verzicht als aufgehoben. – Im vorliegenden Fall betraf die Aussetzung des Verfahrens lediglich den äußeren Fortgang des Verfahrens und berührte nicht die Grundlage der Endentscheidung.b) Weitere prozessuale Handlungen: – Das Schreiben des Senatsgeschäftsführers vom 17.11.2023, das lediglich einen rechtlichen Hinweis enthielt, führt nicht zu einem „Verbrauch“ des Verzichts. – Auch der Ablauf eines längeren Zeitraums seit der Verzichtserklärung und der Wechsel des Prozessbevollmächtigten oder der Zuständigkeit innerhalb des BFH heben den Verzicht nicht auf.
  3. Kostenentscheidung:
    • Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO.
    • Für die Entscheidung über die Anhörungsrüge wird eine Gebühr von 60 € erhoben.

Die Entscheidung zeigt, dass ein einmal erklärter Verzicht auf eine mündliche Verhandlung im finanzgerichtlichen Verfahren unter bestimmten Umständen fortwirkt und nicht ohne Weiteres durch spätere prozessuale Handlungen oder Zeitablauf unwirksam wird.

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Beschluss vom 15. Mai 2024, IX S 16/24

Fortwirkung der Erklärung auf Verzicht einer mündlichen Verhandlung

ECLI:DE:BFH:2024:B.150524.IXS16.24.0

BFH IX. Senat

FGO § 90 Abs 2, FGO § 133a, FGO § 155 S 1, ZPO § 128 Abs 2 S 3

vorgehend BFH , 20. Februar 2024, Az: IX R 27/23 (II R 27/15)

Leitsätze

NV: Die Erklärung, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten, verbraucht sich jedenfalls dann nicht durch eine nachfolgende gerichtliche Entscheidung, wenn hierdurch lediglich der äußere Fortgang des Verfahrens betroffen und nicht die tatsächliche oder rechtliche Grundlage der Endentscheidung berührt wird.

Tenor

Die Anhörungsrüge der Kläger gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 20.02.2024 – IX R 27/23 (II R 27/15) wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Kläger, Revisionskläger und Rügeführer (Kläger) führten beim Bundesfinanzhof (BFH) ein Revisionsverfahren, in dem sie sich gegen die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes wandten. Die ursprünglich bevollmächtigten Prozessvertreter der Kläger erklärten mit Schreiben vom 23.09.2015 den Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) schloss sich dieser Erklärung mit Schreiben vom 13.10.2015 an.
  2. Der seinerzeit für Streitfragen zum Solidaritätszuschlaggesetz geschäftsplanmäßig zuständig gewesene II. Senat des BFH setzte das Revisionsverfahren auf Anregung der Beteiligten mit Beschluss vom 22.10.2015 wegen des damals beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Normenkontrollverfahrens 2 BvL 6/14 aus. Im Nachgang zu der Entscheidung des BVerfG vom 07.06.2023 – 2 BvL 6/14 nahm der inzwischen geschäftsplanmäßig zuständig gewordene erkennende Senat das Revisionsverfahren wieder auf. Hierauf wies die Senatsgeschäftsstelle die Beteiligten mit Schreiben vom 17.11.2023 hin und bat die Kläger im richterlichen Auftrag um Mitteilung, ob das Verfahren im Hinblick auf die Senatsentscheidung vom 17.01.2023 – IX R 15/20 (BFHE 279, 403, BStBl II 2023, 351) aufrechterhalten bliebe. Nachdem die Kläger dies mit Schreiben vom 26.01.2024 ‑‑ohne nähere Begründung‑‑ bejaht hatten, entschied der erkennende Senat über die Revision ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 20.02.2024. Er hob das vorinstanzliche Urteil aus verfahrensrechtlichen Gründen auf und wies die Klage ab.
  3. Hiergegen richtet sich die vorliegende Anhörungsrüge. Die Kläger sehen eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs darin, dass der Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Das FA hat sich zu der Rüge nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Anhörungsrüge hat keinen Erfolg.
  2. 1. Nach § 133a Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist das Verfahren auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Rüge muss das Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen darlegen (§ 133a Abs. 2 Satz 5 FGO).
  3. 2. Die Darlegungen der Kläger rechtfertigen nicht die Annahme, der Senat habe mit der angegriffenen Entscheidung den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes i.V.m. § 133a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FGO verletzt.
  4. a) Gemäß § 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet der BFH in Revisionsverfahren aufgrund mündlicher Verhandlung. Mit Einverständnis der Beteiligten kann der BFH allerdings ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 121 Satz 1, § 90 Abs. 2 FGO). Eine Verletzung des Gehörsanspruchs liegt vor, wenn die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 FGO nicht gegeben sind, das Gericht aber dennoch ohne mündliche Verhandlung entscheidet (statt vieler BFH-Beschluss vom 04.08.2016 – X B 145/15, Rz 15, m.w.N.).
  5. b) Im Streitfall konnte der Senat das angegriffene Urteil ohne mündliche Verhandlung treffen. Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 23.09.2015 und 13.10.2015 klar, eindeutig und vorbehaltlos ihr Einverständnis erklärt, dass die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen könne (vgl. zu den Anforderungen an eine solche Erklärung unter anderem Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 90 Rz 10). Das Einverständnis hat ‑‑anders als die Kläger offensichtlich meinen‑‑ seine prozessrechtliche Wirkung nicht verloren.
  6. aa) Die Rechtsprechung sieht das Einverständnis für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung als „verbraucht“ und damit wirkungslos an, wenn das Gericht im Nachgang zu den Erklärungen der Beteiligten eine die Endentscheidung wesentlich sachlich vorbereitende Entscheidung erlässt. Dies wurde angenommen bei einem der Verzichtserklärung nachfolgenden Auflagenbeschluss gemäß § 79 FGO (BFH-Entscheidungen vom 05.03.1986 – I R 28/81, BFH/NV 1987, 651 sowie vom 05.02.2014 – XI B 7/13, Rz 11), bei einer erneuten Verzichtsanfrage des Gerichts und deren Ablehnung (BFH-Urteil vom 29.04.1999 – V R 102/98, BFH/NV 1999, 1480, unter II.2.b), bei einer Ladung zu einem Erörterungstermin und der Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers (BFH-Urteil vom 31.08.2010 – VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, Rz 22), bei der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung (BFH-Beschluss vom 10.03.2011 – VI B 147/10, BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556, Rz 8) sowie bei einem der Verzichtserklärung nachfolgenden Beweisbeschluss (BFH-Beschluss vom 03.08.2015 – III B 154/14, Rz 5). Diesen Entscheidungen ist gemein, dass das Gericht den Beteiligten gegenüber durch eine prozessgestaltende Handlung zum Ausdruck bringt, dass es eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung allein durch den früher erklärten Verzicht nicht mehr für hinreichend legitimiert ansieht (vgl. BFH-Urteil vom 31.08.2010 – VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, Rz 22). Ein genereller „Verbrauch“ des Einverständnisses infolge jeder nachfolgenden sachlichen Entscheidung des Gerichts ist der höchstrichterlichen finanzgerichtlichen Rechtsprechung allerdings nicht zu entnehmen.
  7. bb) Nach diesen Maßstäben hatte die Erklärung der Beteiligten, auf eine mündliche Verhandlung für das Revisionsverfahren zu verzichten, durchgängig rechtlichen Bestand.
  8. aaa) Dies gilt insbesondere trotz der Entscheidung vom 22.10.2015, das Revisionsverfahren im Hinblick auf das seinerzeit anhängige Normenkontrollverfahren 2 BvL 6/14 gemäß § 121 Satz 1, § 74 FGO auszusetzen. Hierbei handelte es sich lediglich um eine Entscheidung, die den äußeren Fortgang des Verfahrens betraf und nicht um eine solche, durch die die Grundlage der Endentscheidung berührt wurde. Ebenso wenig wurde durch den ‑‑von den Beteiligten selbst angeregten‑‑ Aussetzungsbeschluss zum Ausdruck gebracht, dass der kurz zuvor erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung obsolet geworden sei, eine spätere Entscheidung somit nur aufgrund einer mündlichen Verhandlung hätte getroffen werden können. Jener Beschluss hat für sich betrachtet keine neuen rechtlichen Gesichtspunkte für das Revisionsverfahren hervorgebracht.
  9. bbb) Soweit dies von den Klägern überhaupt gerügt wurde, konnte auch das im richterlichen Auftrag erlassene Senatsgeschäftsstellenschreiben vom 17.11.2023 nicht zu einem „Verbrauch“ der Einverständniserklärungen führen. Eine die spätere Endentscheidung wesentlich vorbereitende Sachentscheidung ging hiermit nicht einher. Das Schreiben erschöpfte sich im Kern in einem rechtlichen Hinweis auf die zwischenzeitlich ergangene Senatsentscheidung vom 17.01.2023 im Revisionsverfahren IX R 15/20 (BFHE 279, 403, BStBl II 2023, 351).
  10. ccc) Das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung wurde zudem nicht durch den Ablauf eines erheblichen Zeitraums nach Abgabe der entsprechenden Erklärungen (im Jahr 2015) prozessrechtlich unwirksam. § 128 Abs. 2 Satz 3 der Zivilprozessordnung, der insofern eine Drei-Monatsfrist bestimmt, ist nicht entsprechend über § 155 Satz 1 FGO anwendbar (vgl. für das verwaltungsgerichtliche Verfahren Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 04.06.2014 – 5 B 11/14, Rz 11, m.w.N.). § 90 Abs. 2 FGO ist abschließend.
  11. ddd) Die fortbestehende Wirksamkeit des Verzichts auf mündliche Verhandlung wurde schließlich nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Erklärungen der Beteiligten ein Wechsel auf Seiten des Prozessbevollmächtigten der Kläger stattgefunden hatte (s. hierzu Senatsbeschluss vom 19.04.2016 – IX B 110/15, Rz 15). Gleiches gilt für den geschäftsplanmäßigen Zuständigkeitswechsel für die Entscheidung über die Revision (vgl. BFH-Urteil vom 13.02.2019 – XI R 41/17, BFHE 263, 337, BStBl II 2021, 717, Rz 52). Ohnehin hätten diese Änderungen die Wirkung des Verzichts nicht von sich aus verbraucht. Vielmehr hätten sich die Kläger ‑‑vor der Entscheidung des Senats‑‑ auf eine veränderte Prozesslage berufen und ihre Verzichtserklärung widerrufen müssen. Dies blieb aus.
  12. 3. Für die Entscheidung über die Anhörungsrüge wird eine Gebühr von 60 € erhoben. Die Rüge bezieht sich auf eine gerichtliche Entscheidung, deren Verfahren vor dem 01.01.2021 und damit vor Inkrafttreten des Kostenrechtsänderungsgesetzes 2021 vom 21.12.2020 (BGBl I 2020, 3229) anhängig geworden ist (Nr. 6400 des Kostenverzeichnisses, Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes; vgl. Senatsbeschluss vom 02.06.2023 – IX S 6/23, Rz 9, m.w.N.).