Schlagwort-Archive: Verfahrensmangel

Voraussetzungen für die Darlegung von Verfahrensmängeln – rechtliches Gehör – Überraschungsentscheidung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 25.3.2013, IX B 180/12

Voraussetzungen für die Darlegung von Verfahrensmängeln – rechtliches Gehör – Überraschungsentscheidung

Gründe

1
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegen nicht vor.
2
1. So kann die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) mit ihrer Rüge, das Finanzgericht (FG) habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt und angebotene Beweise zu Unrecht nicht erhoben, schon deshalb nicht gehört werden, weil die insoweit einschlägige Norm des § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO eine Verfahrensvorschrift ist, auf deren Einhaltung die Prozessbeteiligten –ausdrücklich oder durch Unterlassen einer Rüge– verzichten können (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung –ZPO–). Aus dem insoweit maßgeblichen Sitzungsprotokoll (vgl. § 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 4, § 164 ZPO) ergibt sich nicht, dass das Übergehen von Beweisanträgen gerügt worden ist, obwohl das Gericht darauf hingewiesen hat, dass es „beabsichtige, sein Urteil ohne weiteren Termin zu fällen“; vielmehr hat die Klägerin lediglich weiteren Sachvortrag angekündigt. Die Klägerin hat auch nicht vorgetragen, dass in der mündlichen Verhandlung vor dem FG die Protokollierung einer entsprechenden Rüge verlangt und –im Falle der Weigerung des Gerichts, die Protokollierung vorzunehmen– eine Protokollberichtigung beantragt worden ist (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 9. November 1999 II B 14/99, BFH/NV 2000, 582, m.w.N.). Unbeschadet davon lässt die Beschwerdebegründung nicht erkennen, weshalb sich dem FG auf der Grundlage seines materiell-rechtlichen Standpunktes eine weitere Sachverhaltsaufklärung auch ohne entsprechende Beweisanträge hätte aufdrängen müssen (vgl. BFH-Beschluss vom 28. Juli 2004 IX B 136/03, BFH/NV 2005, 43, m.w.N.).
3
2. Die Klägerin macht auch zu Unrecht geltend, das FG habe eine Überraschungsentscheidung erlassen und dadurch ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO und § 76 Abs. 2 FGO). Eine solche Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste (BFH-Beschluss vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947). Danach liegt im Streitfall keine Überraschungsentscheidung vor; denn die Frage des fehlenden Nachweises der Einkünfteerzielungsabsicht hinsichtlich des Objekts X ist vom FG nicht erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht worden, sondern war zum einen schon Gegenstand der gerichtlichen Verfügung vom 3. Januar 2011, mit der das Gericht die Klägerin gemäß § 79b Abs. 2 FGO aufgefordert hat, „die Vermietungsabsicht glaubhaft zu machen“ und wurde zum anderen ausführlich in der mündlichen Verhandlung thematisiert.

Verfahrensmangel bei unvollständiger Sachverhaltsaufklärung

Verfahrensmangel bei unvollständiger Sachverhaltsaufklärung

Kernaussage

Das Finanzgericht hat in einem Verfahren jeden streitigen Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und die erforderlichen Beweise zu erheben. Soweit sich aus den beigezogenen Akten, dem Beteiligtenvorbringen und sonstigen Umständen Fragen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt aufdrängen, muss das Finanzamt diesen auch ohne entsprechenden Hinweis nachgehen.

Sachverhalt 

In einem finanzgerichtlichen Verfahren war u. a. streitig, ob die von den Klägern selbst erhobene Klage fristgerecht erhoben wurde. Die Klage war ausweislich des Eingangsstempels am 12.10.2010 – und damit einen Tag nach Fristablauf – beim Finanzgericht (FG) eingegangen. Die Klageschrift befand sich in einem unfrankierten Umschlag, der an das FG adressiert war. Die Kläger behaupten, die Klageschrift am 9.10.2010 persönlich in den Briefkasten der Außenstelle des beklagten Finanzamts eingeworfen zu haben. Das FG wies die Klage als unzulässig ab, weil der Vortrag der Kläger nach Aktenlage nicht feststellbar sei. Ferner hätte sich in diesem Fall nach dem üblichen Ablauf im Finanzamt ein Eingangsstempel auf der Klageschrift bzw. auf dem Briefumschlag befinden müssen. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision, mit der ein Verfahrensfehler gerügt wurde, hatte schließlich Erfolg.

Entscheidung 

Die Verpflichtung des FG zur Erforschung des streitigen Sachverhalts gebietet nicht, fern liegenden Überlegungen und Erwägungen nachzugehen. Vorliegend war jedoch von einem weiten aufklärungsbedürftigen Sachverhalt auszugehen. Denn hinsichtlich der entscheidungserheblichen Frage, ob der Briefumschlag nebst Klage tatsächlich vom Kläger beim Finanzamt am 9.10.2010 eingeworfen wurde, drängt sich eine weitere Sachverhaltsaufklärung auf. Ungeklärt blieb nämlich, auf welchem Weg die Klageschrift das FG erreicht hatte. Das FG ging in seinen Urteilsgründen ohne Weiteres von einem üblichen Ablauf der Weiterleitung der Post aus. Hierzu hätten aber die mit dem Posteingang und der Postweiterleitung betrauten Mitarbeiter befragt werden müssen. Die Beteiligtenvernehmung hingegen stellt nur ein letztes Hilfsmittel dar und dient nicht dazu, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, ihre Behauptungen zu bestätigen oder zu beeiden.

Konsequenz

Grundsätzlich scheitern in der Praxis viele Nichtzulassungsbeschwerden. Wird der Beschwerde jedoch stattgegeben, wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt, wenn nicht bereits das angefochtene Urteil aufgehoben wird.